Wie es möglich wurde. Vor 100 Jahren siegte die Faschistische Revolution in Italien

Nach dem Ersten Weltkrieg brachen in Italien schwere Unruhen aus. Die schlechte Wirtschaftslage und die immense Verteuerung lebenswichtiger Alltagsgüter – mit anderen Worten der Hunger – trieben die Menschen auf die Straße. Sie folgten der Sozialistischen Partei, die den Krieg für die Misere verantwortlich machte und keine Willkommenskultur kannte für die Soldaten, die ohne großes Zeremoniell von der Alpenfront nach Hause geschickt worden waren. Sie wurden von den Demonstranten beschimpft und nicht selten verprügelt. Besonders die Arditi, eine Elitetruppe der Armee, waren den Sozialisten verhasst, weil sie Anhänger der Monarchie und patriotisch eingestellt waren und den Krieg mit Begeisterung und Opferbereitschaft geführt hatten.

Die Unruhen breiteten sich aus, sie sollten zwei Jahre anhalten und als „Biennio Rosso“ in die Geschichte eingehen, die Zwei Roten Jahre. 1919 es kam zu 1800 Streiks, an denen sich 1.5 Millionen Arbeiter beteiligten. Zahlreiche Fabriken wurden von bewaffneten Arbeitern besetzt und einige Kapitalisten eingesperrt. Auch eine halbe Million Landarbeiter streikten. Sie setzten durch, dass die Verwaltung ihrer Arbeitskraft in die Hände der Gewerkschaften gelegt wurde. Dies bedeutete eine weitgehende Entmachtung der Großgrundbesitzer, die nicht mehr das Recht hatten, selbst über Einstellungen und Entlassungen zu bestimmen. Zu dem Zweck mussten sie sich nun in die Arbeitskammern der Gewerkschaften begeben und höflich ihr Ansinnen vortragen – eine unerträgliche Demütigung für die Herren, die es gewohnt waren zu befehlen. Die liberale Regierung tat nichts, um die Fabrikbesetzungen zu beenden. Auch die Landarbeiter ließ sie gewähren, die die Dörfer kontrollierten, wenn gestreikt wurde. Geschäfte mussten schließen, das öffentliche Leben kam zum Erliegen – wehe dem, der sich den Anweisungen der Bauernligen widersetzte!

Die Wucht der Streiks und die Wahlerfolge in Stadt und Land zwangen die Sozialistische Partei, ihren Kurs zu klären. Sie predigte zwar seit Jahr und Tag die proletarische Revolution, hatte aber keine Idee, wie sie zu verwirklichen war. Sie fraktionierte sich in Maximalisten, die die Revolution anstrebten, und Minimalisten, die einen Reformkurs verfolgten. Der maximalistische Flügel wuchs und gewann schließlich die Oberhand. Auf einem Kongress in Rom wurde im September 1919 festgelegt, sich an der bolschewistischen Revolution zu orientieren, die Diktatur des Proletariats anzustreben und Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte zu gründen. Jeder wurde mit Ausschluss bedroht, der mit der Monarchie sympathisierte oder an patriotischen Aufmärschen nationaler Solidarität teilnahm. Trotz des Linksschwenks verschärfte sich die Unzufriedenheit des radikalen Flügels, der zur Revolution drängte. Im Januar 1921 verließ er die Sozialistische Partei und gründete die PCd‘I, die Kommunistische Partei Italiens. Die Kommunisten bissen sich sogleich an ihren ehemaligen Parteifreunden fest, die sie leidenschaftlich bekämpften. Sie reklamierten die Führung der Arbeiterklasse für sich, obwohl sie bei den Wahlen 1921 nur 4,6% der Stimmen erhielten.

Mit der Gründung der kommunistischen Partei war die Einheit der antikapitalistischen Bewegung verloren und ihre Kräfte waren zersplittert. Die Hoffnung auf die Revolution aber blieb, die pro-bolschewistische Propaganda wurde schrill und schriller. „Wie in Russland, so in Italien“ war die Parole und die Forderung, die Diktatur des Proletariats einzuführen, erklang immer öfter und drohender. In vielen ländlichen Provinzen und besonders in der Provinz Ferrara wurden Städte und Gemeinden schon von Sozialisten verwaltet, die bei den Wahlen im November 1919 rauschende Erfolge gefeiert hatten und die im Vorgriff auf die Revolution ihre Wahlkampfkosten gerne aus den öffentlichen Kassen bestritten. Die kleinen und großen Händler, die Handwerker, die Angestellten, das Militär, die patriotisch und monarchistisch eingestellten Bürger, die selbstständigen Bauern, die sich eine bescheidene Existenz aufgebaut hatten – viele fürchteten das Revolutionsgeschrei. War doch die italienische Nation vor nicht einmal 60 Jahren mit viel Blut in Kriegen gegen fremde Besatzer erkämpft worden. Sollte man nun den gottlosen Russen nachlaufen, die eine Diktatur errichten wollten und in ihrem umstürzlerischen Wahn gar zur Weltrevolution aufriefen?
Als 1920 die Unruhen wieder aufflammten – diesmal streikten 2.300.000 Arbeiter, mehr als je zuvor – schlossen sich die Fabrikbesitzer und die Landbesitzer in getrennten Organisationen zusammen, um ihre Interessen zu wahren. 3.500.000 Arbeiter waren gewerkschaftlich organisiert und kampfbereit, die Regierung blieb passiv und die Überzeugung wuchs, sich vor der drohenden roten Gefahr schützen zu müssen.

Bei der Suche nach Unterstützern wurden die Großagrarier auf die „Fasci di Combattimento“, die Soldatenbünde, aufmerksam. Die Gruppe war im März 1919 von dem noch jungen Benito Mussolini gegründet worden, der vor dem Krieg eine Führungspersönlichkeit des revolutionären Flügels der Sozialistischen Partei und Direktor der Parteizeitung Avanti! gewesen war. Die kleine, etwas obskure Gruppe, setzte sich aus nationalistisch gesinnten Soldaten, aus Künstlern und revolutionären Gewerkschaftlern zusammen, mit denen sich die Großagrarier vor 1914 zwar heftige Auseinandersetzungen geliefert hatten, die aber unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs Nationalisten geworden waren. Zwar waren die Faschisten erfolglos, sie hatten bei den Wahlen 1919 in Mailand nur knapp 5000 Stimmen bekommen, aber Mussolini wollte an die Macht und ging das Bündnis mit den finanzstarken Großagrariern ein, dem reaktionärsten Teil des italienischen Volkes. Dies war keine Liebesheirat. Mussolini wollte ein neues Italien schaffen und nicht die Pfründe der Großagrarier sichern, aber der gemeinsame Kampf gegen die Roten einte sie. Die Zeit war überreif, ihren verhängnisvollen Siegeszug zu stoppen, um dann das Regierungsschiff zu kapern, den liberalen Staat zu zerschlagen und Italien in eine starke, nationale Zukunft zu steuern. „Gegen die Revolution des Klasseninternationalismus erklärten die Fasci die italienische nationale Revolution“(1), stellt Payne kurz und knapp die Frontstellung in der nun ausbrechenden Faschistischen Revolution dar, die einen neuen Typ des politischen Gewalttäters hervor brachte, den Squadrist.

Faschistische Gewalt In der ersten Jahreshälfte 1921 wurden 726 Einrichtungen zerstört:

„Die Squadre waren in Gruppen von dreißig bis fünfzig Mann organisiert, an deren Spitze häufig ehemalige Offiziere standen und sich zum Teil aus Frontkämpfern zusammen setzten. Sie erwiesen sich bald als viel aggressiver und schlagkräftiger als sämtliche linksgerichteten Gruppen“(2). Im Sold der Großgrundbesitzer überfielen die Squadristen Gewerkschaftshäuser, Büros der linken Parteien und sonstige Einrichtungen. Sie schlugen, stachen, schossen, sie flößten ihren Opfern Rizinusöl ein, sie steckten Partei- und Gewerkschaftsbüros in Brand. Sie terrorisierten Dörfer, dann kleine und große Städte. Politische Morde waren an der Tagesordnung. Mit seiner Zeitung „Il Popolo d’Italia“, die Mussolini schon vor dem Krieg als Reaktion auf seinen Rauswurf bei den Sozialisten gegründet hatte, machte er Stimmung gegen die Sozialisten, seine ehemaligen Genossen, und verteidigte die Gewalt der Squadristi.

Zeitgenössische Karikatur. Der Faschist „kuriert“ den linken Revoluzzer mit Rizinusöl.

„Im Verlauf weniger Monate zerstörten sie einen großen Teil der proletarischen Organisationen in den Provinzen der Poebene, wo die Sozialistische Partei und die roten Ligen es so weit gebracht hatten, dass sie quasi eine totale Kontrolle über das politische und ökonomische Leben ausübten und dabei oft tyrannisch und intolerant gegenüber den bürgerlichen Klassen und bisweilen gegen die Arbeiter selbst auftraten“(3). Die Faschisten hatten von der Staatsgewalt wenig zu befürchten, die Militärleitungen stellten ihnen Lastwagen zur Verfügung, mit denen sie ins Land fahren und ihre Überfälle durchführen konnten, die Gerichte blieben passiv. Die Präfekten und die Carabinieri sahen in den Faschisten Verbündete „gegen diejenigen, die sie ungestraft verspottet und beleidigt hatten“(4) und gingen eine stillschweigende Komplizenschaft ein. Nun zeigte sich der tödliche Fehler doppelt, den die Sozialisten mit ihrer unreflektierten Gleichsetzung von Kriegspolitik der Regierung und Kriegsdienst der einfachen Soldaten begangen hatten. Ausgemusterte Soldaten, die als Squadristen auftraten, wurden logistisch unterstützt von aktiven Soldaten – dies ergab eine dichte, bewaffnete Frontstellung, gegen die sich vielleicht eine ebenso dichte, breite Widerstandsfront hätten behaupten können, aber die kam wegen der Uneinigkeit unter den nicht-faschistischen Parteien nicht zustande. „Die PCd’I … akzeptierte zwar die wirtschaftliche Einheitsfront, also den gemeinsamen Kampf für höhere Löhne. Sie lehnte aber eine politische Einheitsfront ab, z.B. den gemeinsamen Kampf gegen den Faschismus“(5). Zu den nachhaltigsten Ereignissen dieser Zeit gehört zweifelsohne diese traumwandlerische Sicherheit, mit der die Kommunisten, die meinten, auf dem Feldherrnhügel des Klassenkampfes zu stehen und das Proletariat und die Massen in die Revolution zu führen, in Wirklichkeit auf dem Dachfirst ihrer marxistischen Wirklichkeitsinterpretationen standen und den Fuß somnambul ins Leere setzten. Ihr Begriffsrepertoire reichte nicht aus, die Wirklichkeit zu erfassen und z.B. die Bedeutung des Nationalgefühls und des Eigentums für die politische Verortung der „Massen“ sinngebend einzuordnen. Auf die zunehmende Bedrohung durch die Faschisten kannten sie nur eine Antwort: die Intensivierung des Klassenkampfes unter der Führung der Kommunistischen Partei, die immer Recht hat.

Die zahlreichen Artikel, die Gramsci, Gründungsmitglied der PCd‘I und von 1924 bis 1927 ihr Generalsekretär, in seiner Zeitung „Ordine Nuovo“ schrieb, zeigen ihn als scharfen Beobachter und marxistischen Analytiker der Situation, und doch fehlt ihm der Zugang zu dem Phänomen der sich in den Klassenkampf einmischenden und so verhassten piccola borghesia. In dem Artikel „Il popolo delle scimmie“(6), Das Affenvolk, beschimpft er die Kleinbourgeoisie als Affen, das Ende dieser Klasse sieht er bereits kommen. Aktuell äffe sie der Arbeiterklasse nach und gehe auf die Straße, sie sei ohne klares Ziel, so Gramsci, und „von der totalen Unfähigkeit charakterisiert, Gesetze zu formulieren, einen Staat zu gründen.“ Die im Faschismus Fleisch gewordenen Kleinbourgeoisie habe gezeigt, “dass sie völlig unfähig ist, irgendeine historische Aufgabe zu erfüllen”. Die Kommunistische Partei hingegen „wird die stärkste Partei in Italien wegen der Tapferkeit ihrer Mitglieder werden, die sich an die Spitze des aufständischen Volkes stellen und es zur Befreiung und zum Frieden führen werden… In Italien wird die kommunistische Revolution die beliebteste und am besten verankerte Volksbewegung werden, die in der Geschichte unseres Volkes jemals Wirklichkeit wurde“ (7).

Die Wirklichkeit sah jedoch anders aus als die politischen Träume dieses bedeutenden Kommunisten, denn die Mittelklasse war auch soziographisch im Vormarsch. 1881 machte sie noch 46% der Bevölkerung aus, 1921 lag ihr Anteil bereits bei 53%, während der Anteil der Arbeiter im gleichen Zeitraum von 52% auf 45% zurück ging (8). Von 1911 bis 1921 hatten besitzlose Bauern Land erworben, wodurch die Zahl der Grundbesitzer von 1,1 auf ca. 2,3 Millionen gestiegen war. Die Vision einer proletarischen Diktatur verbunden mit der Kollektivierung der Landwirtschaft entsprach nicht den Interessen des „Affenvolks“, dessen Wunsch nach einer besseren Zukunft nicht weniger berechtigt war als der der Landarbeiter und Fabrikarbeiter. Für sie waren die Faschisten die Bewegung, von der sie sich am meisten versprachen, und diese Bewegung stärkten sie massenhaft.

Der Faschismus wächst  

3000 Mitglieder hatten die Faschisten, als sie im Mai 1920 das Bündnis mit der Reaktion eingingen. 18 Monate später waren es 310.000. Im gleichen Zeitraum erhöhte sich die Zahl der Ortsgruppen von 22 auf 2200: das „Affenvolk“ hatte sich in Bewegung gesetzt. Der faschistischen Gewalt hatten die linken Parteien nichts entgegenzusetzen außer dem mutigen Widerstand ihrer Mitglieder und ideologisch verklebte Streitigkeiten. Der liberale Staat, den sie leidenschaftlich bekämpft hatten und den sie abschaffen wollten, ließ sie im Stich. Ihre Klagen über die faschistische Gewalt, so berechtigt sie waren, wirkten hilflos, denn sie selbst propagierten ja Gewalt – die russische Revolution, die Sozialisten wie Kommunisten herbeisehnten, war eine Gewaltorgie von unvergleichlich größerem Ausmaß als die faschistische Revolution, und dass in Italien die proletarische Revolution nur mit massiver Gewaltanwendung siegreich sein würde war klar, ganz zu schweigen von der Gewalt, die die Aufrechterhaltung der Diktatur des Proletariats mit sich bringen musste.

Die faschistische Bewegung wuchs ungebremst zu einer Massenbewegung heran. Bei den Wahlen von 1921 erhielt Mussolini in Mailand fast 200.000 Stimmen, 1919 waren es knapp 5000 gewesen.
Die unkontrollierte Gewalt der Squadristi war allerdings eine Bedrohung für das Ansehen, das die Bewegung in den konservativen, patriotischen Kreisen genoss, die sich von den Knüppelorgien der Sqadristi abgestoßen fühlten. Der Konflikt zwischen dem städtischen, eher parlamentarisch orientierten Faschismus um Mussolini und dem agrarischen, „der sein Vertrauen mehr in die direkte, bewaffnete Aktion setzte als in die Autorität des Staates und den Parlamentarismus“(9), drohte die Bewegung zu spalten. D‘Annunzio rückte die Squadristen angewidert in die Nähe von Sklavenhaltern der Großagrarier und auch Mussolini polemisierte heftig gegen sie. Im Popolo d’Italia schrieb er am 7.8.1921: „Der Faschismus bedeutet nicht mehr Freiheit sondern Tyrannei; nicht mehr Schutz der Nation sondern die Verteidigung der Privatinteressen der trübsten, taubsten und elendesten Kaste, die in Italien existiert(10).“

Mussolini reagierte und schloss mit den Sozialisten ein Befriedungsabkommen, eine Kampfansage an die Squadristi. Die Squadristi schäumten, sie wussten sehr wohl, dass Mussolini den Aufschwung der Bewegung ihnen zu verdanken hatte, und sie dachten keine Sekunde daran, sich von ihm maßregeln zu lassen. In Florenz, wo die Squadristi besonders brutal und rücksichtslos auftraten, sang man schon: „Einmal Verräter, immer Verräter. Wenn er nicht mit uns marschiert, kriegt auch Mussolini die Schnauze voll“(11). Gramsci frohlockte und prophezeite: „Diese Krise wird den Faschismus spalten“(12). Aber wieder schätzte er die Lage falsch ein. Dass es den Faschisten gelang, den Konflikt zu lösen und gestärkt aus der Krise hervorzugehen, zeigte, wie geschickt und zielorientiert sie agierten – ganz im Gegensatz zu den Sozialisten und Kommunisten, die nicht realisierten, dass ihnen das Wasser bis zum Hals stand und dass es nicht die Zeit für spitzpolemische Grundsatzdebatten über den Marxismus und das Kapital war. Nur eine breite Front gegen den Faschismus bot die Chance nicht unterzugehen, aber diese Front kam nicht zustande.

Der Kompromiss innerhalb der faschistischen Bewegung bestand darin, dass Mussolini das Friedensabkommen aufkündigte und den Squadristi nicht mehr in ihr blutiges Geschäft pfuschte. Dafür stimmten sie zu, die Bewegung in eine Partei umzuwandeln. Im November 1921 wurde Mussolini auf einem Kongress in Rom als Duce gefeiert und die Faschisten gingen geschlossen in das folgende Jahr, das ihre Machtübernahme und den Untergang der nicht-faschistischen Parteien besiegeln sollte. Sie waren nun die stärkste Partei und altersdurchschnittlich gesehen die jüngste – die Jugend ging zu den Faschisten, die deswegen auch den Charakter einer Jugendbewegung hatten. Und sie waren eine Partei, in der gerade die Arbeiter stark vertreten waren, die mit 40 % den größten Block bildeten, wenn man Stadt- und Landarbeiter zusammenfasst(13).

Die Faschisten marschierten nun auch in den Städten, und wenn sie nicht gerade Gewerkschaftshäuser verwüsteten und Sozialisten, Kommunisten und nun auch Anhänger der Volkspartei, die Vorläuferin der späteren Democrazia Cristiana, misshandelten oder ermordeten, wussten sie sich durchaus respektabel in Szene zu setzen. Anna Kuliscioff, die russischstämmige Lebensgefährtin Filippo Turatis, des Grandseigneurs der Sozialisten, schrieb ihm einen Brief über einen Aufmarsch der Faschisten am 26.3.1922 in Mailand: „Der Umzug als solcher war aber großartig, eindrucksvoll, geordnet. 20.000 – 30.000 Personen nahmen daran teil… Alle diese jungen Männer zwischen 17 und 25 Jahren, kraftvoll, agil, hübsche Jungs militärisch organisiert – wenn man nicht wüsste, zu welch schändlichen Taten sie bereit sind – vermitteln einen großartigen Eindruck von Schönheit und Kraft“(14).

Im Laufe des Jahres 1922 militarisierten sich die Squadristi, diese agilen, hübschen Jungs, und gingen dazu über, in großen Marschkolonnen diszipliniert auszurücken – der Konsum von Alkohol und der Besuch der Freudenhäuser waren verboten. Italo Balbo, der Squadristenführer von Ferrara, schrieb in sein Tagebuch: wir „zogen durch alle Zentren und Dörfer zwischen den Provinzen Forli und Ravenna und haben alle roten Häuser, die Büros der sozialistischen und kommunistischen Organisationen zerstört. Es war eine furchtbare Nacht. Unser Marsch wurde von lodernden Flammen und Rauchfahnen begleitet“(15).

In diesen Monaten traten ganze Blöcke der Bauernliegen aus der sozialistischen Gewerkschaft aus und in die faschistische Gewerkschaft ein, häufig begleitet von Demütigungen und Akten massiver Gewalt. Die Gewerkschaften versuchten im Sommer 1922 einen letzten Generalstreik gegen die faschistische Gewalt, den sie aber nach zwei Tagen, eingeschüchtert von den Squadristi, nun endgültig die Herren der Straße, einstellen mussten.

Als sich die Gerüchte eines bevorstehenden Staatsstreichs häuften, machte Turati einen letzten Versuch, die faschistische Machtübernahme aufzuhalten und bat um eine Audienz beim König, die Personifikation des Klassenfeindes. Sein Versuch einer Regierungsbildung scheiterte, die Kommunisten ätzten hinter ihm her und Palmiro Togliatti beschimpfte ihn in Ordine Nuovo als „Kadaver“(16). Aber es sollte noch schlimmer kommen, die Zersplitterung der linken Kräfte schritt weiter voran: drei Wochen vor dem Marsch auf Rom wurde Turati und mit ihm der reformistische Flügel der Partei von der Mehrheit der Sozialisten ausgeschlossen, weil er mit dem König geredet und damit das Verbot der Zusammenarbeit mit den bürgerlichen Parteien übertreten hatte.
Die Entscheidung zwischen Klasseninternationalismus und italienisch-nationaler Revolution war gefallen. Als die Faschisten am 28.10.1922 auf Rom marschierten, hatten sie von ihren politischen Gegnern nichts mehr zu befürchten. Der Marsch war kein revolutionärer Sturm, er hatte einen propagandistisch-erpresserischen Charakter. Das Heer wurde in Alarmbereitschaft versetzt, es wäre ein Leichtes gewesen, die Faschisten militärisch aufzuhalten, aber es wäre viel Blut geflossen und der König, der die Fraternisierung seines Heeres mit den Faschisten fürchtete, entschied, die Soldaten nicht einzusetzen und Mussolini mit der Regierungsbildung zu beauftragen.

Wieder liegt der Fokus auf dem Mann, der 10 Jahre zuvor als gefeierter sozialistischer Revolutionär Direktor des Avanti! geworden war. Er war 39 Jahre alt, der jüngste Regierungschef, den Italien hatte. Ohne jede Regierungserfahrung trat er das Amt an, gestützt auf seine Partei und die Squadristi, seine Privatarmee. Am 30.10.1922 rückten ca. 70.000 Squadristi in die Stadt ein, richteten in dem Arbeiterviertel San Lorenzo schwere Verwüstungen an und ermordeten 13 Menschen.

Am nächsten Tag defilierten sie sechs Stunden am König und am Duce vorbei.
Die faschistische Revolution hatte gesiegt.
Der Weg in die faschistische Diktatur, in den Totalitarismus, war frei.

Anmerkungen
Die Übersetzungen aus dem Italienischen wurden vom Autor vorgenommen.
(1) Stanley Payne: Geschichte des Faschismus, 2001, S 131
(2) Stanley Payne, a.a.O., 131
(3) Emilio Gentile: Fascismo, Storia e Interpretazione, 2013, Kindleversion, Kapitel „Un massimalismo di ceti medi: lo squadrismo e la nascita del Partito fascista
(4) Renzo De Felice: Mussolini il Rivoluzionario, 2010, S 604
(5) Wolfram Klein: Antonio Gramsci. Seine politischen Schriften, 2020, S. 17
(6) Antonio Gramsci: Il popolo delle scimmie, Ordine Nuovo 2.1.1921. In: http://www.liberliber.it, Scritti politici II
(7) Antonio Gramsci: Insurrezione di popolo, Ordine Nuovo, 23.7.1921. In: http://www.liberliber.it, Scritti politici II
(8) Stanley Payne: a.a.O. 129
(9) Antonio Gramsci: I due fascismi, Ordine Nuovo 25.8.1921. In: http://www.liberliber.it, Scritti politici II
(10) Benito Mussolini, Il Popolo d’Italia, 7.8.1921. In: Antonio Scurati: M. Il figlio del secolo. Prima edizione digitale 2018, Position 5105
(11) https://it.wikipedia.org/wiki/Squadrismo
(12) Antonio Gramsci: I due fascismi, a.a.O.
(13) Stanley Payne, a.a.O., S 139
(14) Anna Kuliscioff, Brief an Filippo Turati. In: Antonio Scurati, a.a.O., Position 5836
(15) Italo Balbo: Tagebucheintrag vom 30.7.1922. In: Antonio Scurati, a.a.O., Position 6029
(16) Palmiro Togliatti: L’Ordine Nuovo, 30 luglio 1922. In: Antonio Scurati, a.a.O., Position 6260

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