Schaudern in Tremosine

Tremosine ist nicht der Ort, den man zufällig entdeckt. Hoch über dem See auf halber Strecke zwischen Gargnano und Riva gelegen war die Gegend seit alters her  von der Außenwelt abgeschnitten. Nur ein steiler Fußweg führte ans Wasser und endete dort, denn die Gardesana war noch nicht in den Berg gesprengt. Riva oder die südlich gelegenen Ortschaften waren nur über Maultierpfade erreichbar. Auf dem See kreuzten aber bereits die Raddampfer, in Riva befand sich das berühmte Sanatorium Dr. Hartung und sogar ein Badestrand. Thomas und besonders Heinrich Mann hielten sich dort auf und auch Kafka erlebte aufregende Stunden an der Nordspitze des Sees, und dies weniger seiner Schreiberei wegen als wegen einer jungen Schweizerin. 

An Tremosine zog also das große Leben vorbei bis 1913 eine Straße in den Fels getrieben wurde, die mehr als eine Verbindung ist, sie ist ein Erlebnis. Für Fahranfänger ist diese Strada della Forra nicht geeignet, für andere ein kurviger Genuss.

Erreicht man Pieve, den Hauptort von Tremosine, und parkt gleich am Ortseingang, sieht man sofort wie nachhaltig die Moderne und mit ihr der Tourismus Einzug gehalten haben, denn der Blick fällt auf ein großes Schwimmbad, dessen Kubismus mit den natürlichen Formen der Landschaft nicht harmoniert. Der kleine Ort bietet die winkligen Gässchen einer beengten Architektur, und doch kommt das Gefühl der Enge nicht auf. Durch ein höhlenartiges Gewölbe erreicht man die Scala Rotonda, eine auffallend runde Treppe und vielbeschilderte Sehenswürdigkeit des Ortes.

Nun, wer enttäuscht sein sollte von der Schönheit im Kleinen wird bald entschädigt werden, denn der Weg führt in Pieve immer zur Terrazza Panoramica. Eine Bar, ein paar Stühle und Bänke, belegt von Leuten aus dem Norden, die vielleicht kleinste Piazza Italiens – und dann der Blick! Es zieht den Besucher zum Geländer und ein wenig zieht es den nicht Schwindelfreien auch in die Tiefe und Weite, die beeindruckend mit dem Gewirr der engen Gassen kontrastiert. Die in Touristenbroschüren oft verwendeten Begriffe wie „atemberaubend“, „einzigar-tig“ und „wunderbar“ dürfen hier alle zur Geltung kommen, sie treffen zu. Das oben an der Felskante gelegene Hotel Paradiso mit seiner Schauderterrasse ist ebenso ein Magnet, das Gefühl am Abgrund zu stehen gehört dort zum Pane e Coperto dazu.

Wahrscheinlich ist dies der beste Grund, in dieser pandemischen Zeit Tremosine zu besuchen. Kann man sich doch bequem und sicher sitzend sowohl den Speisen wie auch dem Schaudergefühl des Abgrunds hingeben. Wer aber auf der Schauderterrasse des Hotels Paradiso wagt aufzustehen und ohne Mundschutz herumzulaufen, der wird sofort von einem schnell hinzu springenden, ninjaartigen Kellner in Schwarz daran erinnert, dass derzeit der Abgrund überall lauert und nicht mehr nur in Bergamo. Was der Militärtransport der Särge in dieser „atemberaubenden“, „einzigartigen“ und „wunderschönen “ Stadt war, hier ist’s der Blick in die Tiefe.

Wieder am See wartet schon das nächste Schaudererlebnis, diesmal in Limone, und wieder treffen die Tourismusattribute zu. Wer der Menge entfliegen möchte spaziert einfach durch den Ort hindurch und erreicht nach einer Wanderung zwischen alten Mauern und mediterraner Flora – hinter jedem Limonenbaum könnte Goethe sitzen und von dem Land reimen, in dem die Zitronen blühen – das neueste Teilstück eines Fahrradweges. Er soll einmal den See umrunden – wann, das wissen nur die Götter und auch die müssen erst das Orakel befragen. Dieser Weg führt nicht an den Abgrund, sondern befindet sich über dem Abgrund. Eine kühne Ingenieursleistung hat eine Art begeh- und fahrradbefahrbare Veranda an die steile Felswand bauen lassen, unten das Wasser, oben der Himmel. Die stabile Konstruktion wirkt Vertrauen erweckend, der Rückweg verdoppelt das Vergnügen und ein Besuch in der Trattoria Gemma verdreifacht es.

An der Piazza Garibaldi und direkt am See gelegen wartet das Lokal mit Speisen auf, die gut und nicht überteuert sind. Empfehlenswert sind die Nudelgerichte, das Lokal bezieht die Pasta von dem in Familientradition betriebenen Pastificcio Gaetarelli, wie wir auf Nachfrage erfahren. Die Gaetarellis produzieren in Cunnettone, und damit haben Besucher des Torre einen klaren Vorteil. Cunnettone liegt südlich von Salò an der SP 527 und markiert den Beginn der Straße nach Desenzano. In Cunnettone biegt man rechts ab, wenn man die Cantina Franzosi besuchen will – nun kann man zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen (oder „uccidere due piccioni con una fava“, wie der Italiener sagt, zwei Tauben mit einer Bohne töten). Denn nach dem Weinkauf bei Franzosi fährt man nicht nach Hause sondern verlässt den Ort Richtung Süden und biegt nach der VW – Werkstatt links in die Via Enrico Fermi. Rechts sieht man gleich die moderne Anlage der Gaetarellis, in die ein kleiner Laden integriert ist. Die Auswahl ist groß, die Pasta und die Pastagerichte sind alle empfehlenswert, frisch und deswegen nicht lange haltbar.

Eine gute Botschaft zum Schluss, ein Geheimtipp für die Torrebesucher, denen die Fahrt nach Cunnettone zu aufwendig ist: im Supermarkt in Roè gibt es eine kleine Auswahl an Gaetarelliprodukten, darunter natürlich auch Spaghetti, die bei Gaetarelli Bigoli heißen, im Restaurant Gemma aber als Spaghetti angepriesen werden.

Ein gut gefüllter Teller begleitet von einem guten Glas Wein hat eindeutig schaudersenkende Wirkung und der Torre, der vermutlich schon die Pest von 1348 überlebt hat, trägt dazu bei, Abstand zu dem Schauderhaften zu finden. Das Zeitlose eines alten Gemäuers bedeutet ja auch, dass man dort die Zeit los wird, zumindest für die Urlaubstage.

Keine schlechte Schauderkur, finde ich!

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