Wann San Bernardino nach Degagna kam, Cecino einen Besuch abstattete und vor dem Torre predigte ist nicht ganz klar, denn er hat die Region zwei Mal durchwandert, 1419/20 und 1428/29. Sein Symbol, „das Monogramm YHS im goldenen Strahlenkranz (findet man) über dem Eingangsportal zahlloser kleiner Dorfkirchen, an Kapellen am Weg und an Bildstöcken… Bernardino war hier, bedeutet dieses Emblem; er predigte hier“, schreibt Iris Origo in ihrem Buch über den Heiligen aus Siena.
Bernardino war ein Mann von schmächtiger Gestalt, schon sein Name Bernardino, die Verkleinerungsform von Bernardo, verrät es. Die zeitgenössischen Bilder stellen ihn hager dar, asketisch und barfuß. Vier Jahrzehnte wanderte er durch Italien, meist von Siena aus nach Norden. Er besuchte Mailand, überquerte den Alpenpass, der seinen Namen trägt, hielt sich am Gardasee und in Venedig auf, aber auch die Städte der Marken und Lazios besuchte er. Wo immer er war predigte Bernardino, zahnlos die meiste Zeit, da ihm schon mit 40 Jahren alle Zähne ausgefallen waren.

Dass er für die Predigt in Degagna den Torre von Cecino ausgewählt hatte, damals höchst wahrscheinlich eine burgartige Anlage, und nicht die nahe gelegene Kirche oder eine andere Stätte im Tal sagt viel über die Bedeutung des Gebäudes. Vermutlich hat er dort gestanden wo heute noch sein Jesussymbol zu sehen ist, rechts neben dem Hauseingang. Der Sonnenkranz mit den 12 Strahlen und das Monogramm IHS sind gut erhalten. IHS oder YHS werden als die Anfangsbuchstaben des Namen Jesu auf Griechisch gelesen oder als Abkürzung für Iesus Hominis Salvator, Jesus Retter des Menschen.
Ein Heiliger aus dem Mittelalter und zudem ein religiöser Eiferer bleibt uns 600 Jahre später fremd. Was Bernardino trotzdem so interessant macht ist der Einblick ins italienische Mittelalter, den wir mit ihm und aus seiner Sicht nehmen können, denn zahlreiche seiner Predigten sind überliefert.
Worüber er in Cecino gesprochen hat, das lässt sich erahnen. Vermutlich nicht über die Usuraio, die Wucherei, im abgelegenen Degagna, eher schon über das Los der Armen. Und über die Prunksucht der Frauen, eines seiner Lieblingsthemen zumindest im schicken Siena, wo die Frauen Hüte trugen, „so viel eitles Zeug dass es mich schaudert. Da seh ich eine, die hat den Kopf voller Kutteln, die wieder hat einen Pfannkuchen drauf, die da ein Tranchierbrett. Ihr schaut aus wie Uhus, Eulen und Käuze. Oh Weib, du hast ja einen Abgott aus deinem Kopf gemacht“, rief er auf der Piazza del Campo aus.
Aber Bernardino war weit mehr als einer der üblichen Prediger gegen die Prunksucht, eine der sieben Todsünden. Fast noch schärfer als mit den Ehefrauen ging er mit ihren Männern ins Gericht. „Oh ihr Irren an der Kette“, rief er ihnen zu, „so viele gibt es unter euch, die besser mit einem Huhn zurechtkommen, das jeden Tag ein Ei legt, als mit ihrer eigenen Frau. Ein kluger Mann darf seine Frau niemals schlagen, was für einen Fehler sie auch macht.“ Ein Mann, so Bernardino, habe nicht das Recht, von seiner Frau Tugenden zu verlangen, die er selbst nicht hat. „Gott schuf das Weib aus einem Knochen Adams“, hielt er den Männern vor, „aber nicht aus einem Knochen seines Fußes, damit er sie unterjoche und mit seinen Füßen trete…Er machte sie aus einem Knochen seiner Brust, einer Rippe nahe dem Herzen, (damit) du sie mit wahrer Liebe lieben sollst als deine Gefährtin.“

Vielleicht hat er über dieses Thema in Cecino gepredigt. Vielleicht über die Unsitte der Leute, den Kirchbesuch als eine Spaßveranstaltung zu missbrauchen, denn sie fanden nichts dabei, Würfel, Falken und Jagdhunde mit bimmelnden Glöckchen mitzubringen, wie er monierte. Vielleicht sprach er über Aberglauben und über Hexen, von deren Existenz er überzeugt war. Nach einer Hexenverbrennung in Rom, an der er teilgenommen hatte, predigte er: „Ach, könnte ich doch veranlassen, dass auch hier solches geschieht. Auf, lasst uns dem Herrgott hier in Siena ein wenig solchen Weihrauch entfachen!“
Bernardino war populär, das weckte Neid. Zwei Mal musste er sich gegen den Vorwurf verteidigen, ein Ketzer zu sein. Bei seinen Predigten stellte er immer das Sonnenemblem mit dem IHS-Schriftzug auf einen Holzaltar was ihm den Vorwurf einbrachte, einen neuen Kult einzuführen, letztendlich eine Art Götzendienst zu betreiben. Bernardino nahm’s gelassen. „Manche wollen mich geröstet, manche gebraten“, witzelte er.
Papst Martin V zitierte ihn nach Rom und ordnete eine öffentliche Untersuchung an, die er selbst leitete. 52 Doktoren der Theologie und die wichtigsten Kardinäle und Prälaten der Kurie waren anwesend. Der Prozess war von Vertretern konkurrierender Orden angestrengt worden, von Augustinern und Dominikanern. Warum, so fragten sie, sei ein neues Symbol für die Christen nötig, wo sie doch schon das Kreuz hätten? Jesus Name sei nun überall in der Stadt zu sehen, sogar über dem Eingang der Bordelle. Die Sinne der einfachen Leute würden verwirrt, in Sizilien sei es schon so weit, dass sie, wenn sie sich bekreuzigten, sagten: „Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes und des guten Jesus“, empörten sie sich und riefen: „Fora i Gesù, weg mit den Jesussen!“
Bernardino verteidigte sich selbst. Es ginge bei dem Emblem nicht um Zubehör oder Schmuck, nicht um Form oder Farbe sondern um die Buchstaben des Namens Jesu und die Bedeutung, die ihnen inne wohne. „Ich sage nicht, dass man die Farben, das Gold oder Silber anbeten solle, sondern das Wesenhafte dieses Namens, Jesus, Gott und Mensch.“ Die zwölf flammenartigen Strahlen stellten die zwölf Glaubensartikel dar, die von den zwölf Aposteln in der Welt verbreitet wurden, erklärte er. Die Theologen nickten und bedachten ihn mit Applaus, Papst Martin war begeistert, machte Bernardino eine kleine Kapelle zum Geschenk und wollte, dass er im Petersdom predigte. Sein Nachfolger, Papst Eugen IV, erklärte, als später wieder der Vorwurf der Ketzerei erhoben wurde: „Er ist der bedeutendste Prediger und untadeligste Lehrer von allen, die das Evangelium in Italien und in der Fremde predigen.“
Bei so viel Lob von höchster Stelle verwundert es nicht, dass man Bernardino drei Mal die Bischofswürde anbot, aber drei Mal lehnte er ab. Einige Jahre war er Generalvikar des Ordens der Observanten in ganz Italien, aber bald zog er sich von diesem Posten zurück und wurde wieder der einfache Wanderprediger, der mit seinem Esel und zwei Begleitern durch die Lande zog.
Als er 1444 gestorben war, setzte sofort das unfromme Geschacher um seine Gebeine eine. Bernardino war in Aquila gestorben und dort sollte der Leichnam auch bleiben, befanden die Bürger der Stadt, aber die aus Siena wollten nicht einsehen, dass ihr Heiliger nicht in ihrer Stadt begraben sein sollte und schickten Gesandte aus, den Leichnam zu holen. Wie schon bei dem lebenden Bernardino so musst der Papst auch bei dem toten eingreifen und verwarf das Ansinnen der Sieneser. Sie durften lediglich die Kleidungsstücke des Heiligen und seine wenigen Habseligkeiten in die Toskana bringen, die sie auf den Rücken des Esels packten, mit dem Bernardino so oft durchs Land gezogen war. Als sie die Stadt erreichten, stürzten sich die Sieneserinnen auf „das arme Tier (und zogen) ihm die Haare beinahe einzeln aus, da sie alle unbedingt eine Reliquie ergattern wollten, und wenn es nur ein Haar seines treuen Esels war.“
Mit einer Eselei endet also die Geschichte des berühmtesten Besuchers des Ferienhauses. Dass sie überhaupt erzählt werden kann ist dem Entdeckereifer der deutschen Neubesitzer zu verdanken, denn das Emblem auf der Hauswand war mit einem erdigen Ocker übermalt, das man Siena nennt, nur ein rotes Stückchen leuchtete hervor. Nach wer weiß wie vielen Generationen wurde das Emblem des Bernardino freigelegt und Cecino als Teil seiner Geschichte wieder gegeben, denn niemand erinnerte sich mehr an den Besuch des Heiligen aus der Toskana.

Die Zitate sind dem Buch von Iris Origo entnommen: Der Heilige aus der Toskana, München 1989