Von Wurzelgräbern, Nekromanten, bösen Teufeln und einem Drachen am Himmel über Cecino

Am 18.6.1588 wurde ein großer Drache in Degagna gesehen, den Jäger über die Berge verfolgten. Die Sicht war dürftig, denn eine Schlechtwetterfront regnete sich über dem Tal ab, aber es war ein Drache, zweifelsfrei. Außer den Jägern waren Chiromanten unterwegs um Wurzeln auszugraben und ein Bauer aus dem Ort, der lange in Venedig gelebt und von dort ein Buch über Nekromantie mitgebracht hatte, die Kunst der Totenbeschwörung. Als er mit dem Buch in der Hand an jenem Tag im Juni die Toten erscheinen lassen wollte, muss er etwas falsch gemacht haben, denn statt der Toten sprang ein Rudel wilder Teufel aus der tiefsten Hölle auf die Erde. Sie versetzten den Bauern mittels Opium in einen tiefen Schlaf, richteten jede Mange Schaden an und waren wieder verschwunden, bevor der Mann erwachte.

Bongiani Grattarolo erzählt in seinem Buch „Historia della Riviera di Salò”, das 1599 erschien, von diesen magischen Momenten. Sie stehen im Zusammenhang mit der sehr realen Naturkatastrophe, die an diesem Tag über das Tal herein brach. Gegen Abend kam es zu sintflutartigen Regenfällen,  von schwerem Hagel begleitet. Das Bächlein Agna schwoll sehr schnell bedrohlich an. Damals war das Degagnatal ein Zentrum der eisenverarbeitenden Industrie, es wurden Nägel und andere Kleinteile hergestellt und nach Venedig gebracht. Eine ausgeklügelte Mechanik trieb schwere Schmiedehämmer mit Wasserkraft an. Diese Produktionsstätten aber auch einige Mühlen befanden sich direkt am Ufer der Agna in dem tief eingeschnittenen Tal. Schmale Pfade führten auf kleinen Holzbrücken herüber und hinüber, um Rohstoffe und Waren mit Mulis und Pferden zu transportieren. Als die Wasser in kürzester Zeit stiegen und die Brücken fort rissen gab es keine Fluchtmöglichkeiten. Grattarolo berichtet, dass das Wasser die Eisenschmieden überflutete, die Feuer löschte und Ambos, Hammer, Blasebalg, Rohmaterial, Kohle und andere Gerätschaften fort schwemmte sowie Mühlen zerstörte und Malsteine, Getreide und Mehl mit sich nahm. Zahlreiche Menschen und Tiere ertranken und wurden von den Fluten bis ins 40 km entfernte Montichiari getragen. Die Zerstörung setzte sich mit der Flutwelle fort, die Brücken und Uferbefestigungen demolierte. In Vobarno, wo die Agna in einen größeren Fluss mündet, legten sich entwurzelte Baumstämme quer und bildeten eine natürliche Barriere, die noch größere Schäden flussabwärts verhinderte. Da die Kirche San Rocco direkt oberhalb der Mündung steht war klar, dass hier der Heilige Rocco für ein Wunder gesorgt hatte.

Grattarolo berichtet zwar von den Fabeln der Leute aus Degagna, aber als eher neutraler Beobachter. Da sein Buch als Bericht über den Reichtum, die Schönheit und Nützlichkeit seiner Heimat an den Dogen in Venedig gedacht war, ist es eher erstaunlich, dass er von dem Bauern schrieb, der aus Venedig ein Buch über schwarze Magie mitgebracht hatte, auch wenn der Hinweis auf die Wundertat des Heiligen Rocco die Dinge wieder ins rechte Licht rückte.

Für die Menschen im Tal war die Überschwemmung nach dem Kriegszug der Landsknechte Frundsbergs, über den ich in einem andern Blog geschrieben habe, schon die zweite Katastrophe des 16. Jahrhunderts. Die Landsknechte haben geplündert und Brände gelegt, aber die ökonomische Basis des Tals war nicht zerstört. Wann sich Degagna von der Flut des 18.6.1588 erholt hatte, darüber erfahren wir bei Grattarolo nichts. Der plötzliche Verlust an Leben und Lebensgrundlage muss die Menschen tief verunsichert haben. Wie nicht selten in solchen Situationen entstand das Bedürfnis, die Erinnerung an die Überschwemmung, die Zerstörung und die Toten wach zu halten. Man errichtete ein Denkmal am Ortseingang von Cecino, wo es noch heute steht. Ein Fresco in einer ummauerten Nische zeigt den Engel des Jüngsten Gerichts mit seiner Posaune über einer überfluteten Landschaft schwebend. Leichen treiben im Wasser, ein Paar steht Schutz suchend bei einer Kirche. 15 Schädel ordentlich aufgereiht sind ein grausiges Detail, vielleicht die genaue Zahl der Opfer, die Degagna zu beklagen hatte.

Vor einigen Jahren wurde das Denkmal restauriert und um die Gestalt des Heiligen Alessandro erweitert, der außen seitlich aufgemalt wurde. Er ist einer der Schutzheiligen des Tals. Ein ewiges Licht leuchtet natürlich auch. Aber als ich Leute aus dem Dorf fragte, was es mit dem Denkmal einer Flutkatastrophe im Gebirge auf sich habe wusste niemand so recht Bescheid.

Wenig später kramte ich in dem Buchladen der Gemeinde von Salò, dem ein freundlicher Herr vorsteht und Bücher in Regalen oder auf einem Tisch schichtweise getürmt den Besuchern überlässt, aber wenn man mit ihm plaudert wühlt er nach seinen Schätzen. In einer unteren Schicht steckte der Grattarolo. Er zog ihn heraus ohne die Schichten ins Rutschen zu bringen und empfahl ihn mir als lokalhistorische Quelle, deren Informationen direkt aus dem 16. Jahrhundert sprudeln würden – wenn es mir gelänge, das Italienisch zu entziffern, das vor 500 Jahren geschrieben wurde! Ich begann in einer Bar am See und blätterte mich bis zur Seite 105 durch, wo von der Katastrophe des 18.6.1588 erzählt wird – und wurde die Bedeutung des Denkmals in Cecino verständlich!

Was die Folgen der Überschwemmungen betrifft so scheint es nach einigen Jahren wieder aufwärts gegangen zu sein. Der Torre, damals das Pfarrhaus, wurde 1604 und 1605 umgebaut und erweitert und erhielt die Form des heutigen Ferienhauses, worauf mehrere Jahreszahlen hinweisen, die ich auf der Fassade und dem Sturz über der Wohnzimmertür freigelegt habe.

Aber was sind schon Zahlen gegenüber den Geschichten eines Grattarolo und den Erinnerungen, die ein Denkmal verewigt, an dem so viele achtlos vorüber gehen!

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